Jedes Jahr bekomme ich einen Brief vom Versorgungsamt, in dem ich aufgefordert werde eine Lebensbescheinigung für das Jahr ausfüllen zu lassen.
Eine Lebensbescheinigung? Was ist das denn?
Ich beziehe eine Rente über das Versorgungsamt. Ich bin Opfer einer Gewalttat und bin zu 70% erwerbsgemindert. Um zu bestätigen, dass ich noch am Leben bin, muss ich mir einen Stempel beim zuständigen öffentlichen Amt abholen. Dort schaut man in meinen Personalausweis, dann in mein Gesicht. Man vergleicht die Daten und gewährt mir dann den Stempel. Dieses Dokument bescheinigt, dass ich lebe.
Soweit so gut. Für mich hat dieses Formular eine ganz persönliche Bedeutung bekommen. Ich klopfe mir, wenn ich dieses Formular in den Händen halte, erst einmal selbst auf die Schulter!
Ich habe ein weiteres Jahr überlebt!
Ich habe eine lebensbedrohliche, chronische Erkrankung. Eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung ist eine schwerwiegende Krankheit.
Dann bin ich dankbar, ein gutes, professionelles Betreuungsnetz aufgebaut zu haben. Ich habe eine Psychotherapeutin, die spezialisiert ist auf Traumafolgestörungen. Ich habe eine Psychiaterin, die mit mir zusammen immer wieder schaut, ob ich eine medikamentöse Unterstützung benötige. Ich war lange Zeit in ergotherpeutischer Behandlung. Auch diese Ergotherapeutin ist auf Trauma spezialisiert. Ich hatte eine Anwältin an meiner Seite, die mich in all den Jahren des Prozesses, die ich gegen die Täter führte, einfühlsam und engmaschig betreute. An all diese Wegbegleiterinnen denke ich, wenn ich den Brief vom Versorgungsamt öffne und die Lebensbescheinigung in den Händen halte. Diese Frauen waren und sind solidarisch an meiner Seite. Sie zweifelten keine Sekunde daran, dass ich überlebe. Danke für diese Unterstützung.
Ich bin Opfer von sexualisierter Gewalt.
Ich schäme mich nicht mehr eine Erwerbsminderungsrente, eine Ausgleichsrente und eine Opferentschädingungsrente über das Versorgungsamt zu beziehen.
Ich habe überlebt. Ein weiteres Jahr. Und ich bin stolz darauf.
Namasté.
Jenny
P. S. Wenn du therapeutische Hilfe und/oder einen Rechtsbeistand benötigst, wende dich an das Hilfetelefon. Dort bekommst du Unterstützung die passenden Stellen in deiner Nähe zu finden. Viel Kraft.